1325 m nach Mexiko. Midpoint.
1325 m nach Kanada.
Die Angaben stehen auf einem unscheinbaren, schlichten Betonpfeiler am Wegrand. Die Hälfte also.
Mit jedem Schritt wird der Weg nach Kanada kürzer, der Weg nach Mexiko weiter. Logisch und unbegreiflich zugleich.
Kanada 1152 m Mexiko 1498 m.
Die Botschaft wird deutlicher. Ich habe zeitlich und streckenmäßig mehr als die Hälfte hinter mir. Dieser zurückliegende Meilenstein irritiert mich. Ist es "schon" oder ist es "erst" die Hälfte? Ich bin mir nicht schlüssig.
Die trockenen Wege Nordkaliforniens sind landschaftlich abwechslungsreich und anspruchslos zu gehen. Gleichwohl empfinde ich zuweilen einen gewissen Überdruss. Die Meilen ziehen sich hin, freudlos gehe ich meinen Weg. Die Strecke bis Seiad Valley und Oregon sind jene Abschnitte, wo man grosse Tagesstrecken zurücklegt; 30 und mehr Meilen. Das tue ich nicht, ich laufe 20- 25 Meilen täglich, ohne feste Planung. Gleichwohl ist die tägliche Strecke in den Mittelpunkt gerückt, hat anderes verdrängt. Da hat sich etwas schleichend verschoben. Ich habe mich heute mit Chasing Freedom und Hipbelt darüber unterhalten*. Denen geht es ähnlich, es komme ihnen so vor, als ob sie morgens einstempeln und dann ihre Meilen abspulen würden. Ein Meilenstein- und das ist der "midpoint"- fordert einen zur Zwischenbilanz auf.
Ich bin in Mount Shasta, welches seinem Ruf als Hippieort vollauf gerecht wird. Ich werde über die Bücher gehen, wie ich die kommenden zwei Monate gestalten werde. Klar, die Strecke ist lang und will gelaufen sein. Gleichzeitig gilt es sorgsam ein Auge auf das fragile Gleichgewicht zwischen Freude am Laufen und Leben draussen und den mühsameren Aspekten des Traillebens zu halten. Ich habe das dringende Bedürfnis mehr Zeit für anderes zu haben, zum lesen, mich informieren über die Gegend, die ich durchlaufe oder mehr Zeit an idyllischen Orten verbringen. Sonst geht es mir eines Tages wie Forrest Gump; auf einmal bleibe ich stehen. Die Freude ist mir abhanden gekommen und ich gehe nach Hause.
Es hat genügend Gründe gegeben, weiterzugehen: die Höhenwanderung nach Old Station über dem Hat Creek Valley. Der Blick auf den Mount Shasta. Und gestern sind wir einer Bärenfamilie begegnet. Nonstop, eine 23 jährige Amerikanerin mit einem engen Zeitplan, hat sich die letzten Tage mir angeschlossen. Sie hat Angst vor allen möglichen Viechern und v.a. alleine zu campen. Ihren Namen habe sie erhalten, weil sie eine Plaudertante sei. Wir hatten' s gut miteinander, Nonstop ist unterhaltsam, herzlich und kommunikativ, weiss über alle Bescheid, weil sie mit allen redet. Das lässt sie ständig hinter ihren Zeitplan zurückfallen, was sie ihrem unpassenden Schuhwerk zuschreibt. Dieses wiederum führt dazu, dass sie sich mehrfach täglich ohne Ankündigung, dafür mit weitherum hörbarem Seufzer auf den Trail fallen lässt, um auszuruhen.
Ich ging voran. Als ein kleiner Bär über den Trail rannte, war ich alarmiert. Vor solchen Situationen wird gewarnt, das könnte gefährlich werden. Schliesslich entdeckten wir die Bärenmutter, sie jagte ihre beiden Jungen einen Baum hoch und wandte sich, mit dem Rücken zu uns, aber uns beobachtend, ab. Wir interpretierten dies als Erlaubnis, unseren Weg fortzusetzen. Wir taten dies, stets gut sicht- und hörbar für die Bärenmutter. Nonstop winkte den Knuddelbären, die erschreckt am Baum hingen, mit Jö- Rufen zu. Wir waren begeistert.
Zurück zum Midpoint. Ich hatte mir für alle Fälle illegaler**- und passenderweise einen Schluck " moonshine" Whiskey abfüllen lassen.
Ich stosse auf die Erlebnisse der ersten Hälfte an, auf die restliche Strecke und mit dem letzten Schluck verbinde ich ein Danke. Nonstop würde noch einen dramatischen Seufzer anfügen.
* Mit den beiden sind wir (+Madame) damals über den höchsten Pass, den Forester gelaufen.
** In Kalifornien ist es den Barkeepern verboten, Alkoholika über die Gasse zu verkaufen. "Moonshine" ist ein Whiskey, welcher in Aufmachung (Blechkanister) an die Zeit der Prohibition erinnert.
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